Raúl Aguayo-Krauthausen hat nicht nur mit seinem Cousin den gemeinnützigen Verein „Sozialhelden“ gegründet. Durch seinen Lebensstil, wie er durchs Leben geht, es betrachtet und wie dann danach handelt – mit unzähligen Projekten und gezieltem Engagement für andere – lebt er Heldentum.
Was uns im Alltag berührt
Raúl über seinen Alltag und besondere Gedanken
Carmen Uth:
Was sind die 3 wichtigsten Emotionen, die Sie mögen?
Raúl Aguayo-Krauthausen:
Neugier.
Der Flow, wenn man sich bei einer Sache selbst vergißt. Begeisterung – ich finde es toll, andere zu begeistern.
Und Demut.
Damit meine ich nicht das Offensichtliche wie Rollstuhl oder Behinderung.
In meinem Design Thinking Studium lernte ich die goldene Regel kennen, die besagt hat: Der Nutzer hat immer recht. Und wenn der Produkt Manager sagt, die Kunden verstehen uns nicht, dann heißt das es eigentlich, wir haben ein untaugliches Produkt gebaut und nicht, dass der Kunde nicht schlau genug ist, es zu nutzen.
Diese Demut muss man behalten, neugierig bleiben und voneinander lernen. Damit wir wegkommen von der gefühlten Arroganz wie Arroganz in der Werbung: Auf Hochglanz poliert, aber kein Bezug mehr zur Realität, noch nicht einmal die Realität der Leute, die sie abbilden.
Neulich habe ich in einem Möbelhaus, das kleinste Kinderzimmer der Welt gesehen. Auf 4 Quadratmeter war alles drin. Hochbett, Schreibtisch, Sofa. Und da stand ein Begleittext, der mich wirklich berührt hat: „Wenn das Kind am Wochenende bei Papa ist…“
Da hat eine große Weltmarke eine Lebensrealität akzeptiert und eine Lösung dafür entwickelt und vor allem gesagt: Das ist die Realität da draußen!
Und es ist eben nicht immer die glückliche Familie: Vater, Mutter, Kind, sondern eben vielleicht auch die Single Mutter, die völlig gestresst ist. Diese Demut für die Menschen, die im Grunde die Mehrheit der Gesellschaft ausmachen, die kann man noch viel mehr ausbauen.
Carmen Uth:
Was tun Sie dafür, um „gute“ Emotionen möglichst oft auskosten und genießen zu können?
Raúl Aguayo-Krauthausen:
In unserer Organisation „die Sozialhelden“ müssen wir natürlich das Geld anschaffen, um unsere Mieten zu bezahlen. Dennoch erschaffen wir uns Spielraum und Freiheit für Neues – auch auf Risiko hin, zu scheitern.
Ein Beispiel dazu: Wir haben gespürt, dass Journalisten immer ein großes Problem damit haben, über das Thema Mensch mit Behinderung zu berichten. Dabei machen wir einfach nur unseren Job. Die Behinderung ist vielleich sogar ein Vorteil, weil wir Expertise in einem Thema haben, die andere nicht haben. Wir haben die Darstellung behinderter Menschen der letzten 200 Jahre auf einer Website aufbereitet. Dafür haben wir Journalisten mit Behinderung 2 Monate lang das Thema recherchieren lassen. Das gesamte Projekt hat 6.000,- EUR gekostet.
Dieses Projekt ist inzwischen eines unserer erfolgreichsten, weil wir jetzt in Medienhäusern Workshops für Journalisten geben, wie sie vorurteilsfrei mit dem Thema Behinderung in ihrer professionellen Routine, alltäglichen Medienarbeit umgehen können. Sich solche Freiheit zu nehmen, die ist total wichtig.
Nichtsdestotrotz ist das Genießen ein Problem und läuft nicht automatisch, sondern man muss sich darum kümmern. Nachdem wir unser Jahressoll Anfang Oktober erfüllt haben, haben wir beschlossen, den Rest des Jahres 1. die Baustellen zu schließen und vor allem 2. um mal ordentlich zu feiern. Und genau das machen wir gerade – und zwar hören wir einfach früher auf zu arbeiten, feiern also während der Arbeitszeit.
Ein anderer Punkt ist, dass wir als „Gemeinnütziger Verein“ bürokratisch bedingt Vereinssitzungen durchführen müssen. Als Sozialhelden haben wir daraus ein Gipfeltreffen gemacht. Auf diesem Gipfeltreffen gibt es immer den Pflichtteil mit Entscheidungen. Aber dann gibt es den mindestens genauso wichtigen Teil: Nach vorne zu blicken. Was haben wir vor?!
Was würden wir gerne machen?
Ein weiteres Thema ist, dass wir uns immer weiterbilden. Aus den eigenen Reihen präsentiert dann jemand etwas, was wir andere nicht können. Von Yoga, über Jonglage oder Comics zeichnen. Jeder kann irgendwas. Manchmal laden wir uns Leute ein. Das macht richtig Laune.
Andere nennen das Mitarbeiterschulung, aber die machen wir dann auch noch zusätzlich.
Carmen Uth:
Was ist eine typische, alltägliche Emotionsblockade in Ihrem Leben?
Raúl Aguayo-Krauthausen:
Zeit.
Die Digitalisierung führt dazu, dass wir unser Telefon ständig dabei haben. Und während ich vorhin auf der Bühne stand, hat mein Handy vibriert. Das war einfach Stress. Ich hatte vergessen, es auszumachen. Aber es würde auch nichts ändern. Denn wenn ich es danach wieder anmache, kommt es doppelt so stark zurück, wie so ein Bumerang.
Was ich lernen muss, ist mir Zeit zu nehmen für meine Offline-Zeit bzw. Analog-Zeit. Wochenenden sind inzwischen Tabu, da versuche ich nicht zu arbeiten. Das muss ich mir zurückerobern. Das ist der Blocker, um Gefühle aufkommen zu lassen.
Carmen Uth:
Mit welcher Strategie kommen Sie da wieder heraus?
Raúl Aguayo-Krauthausen:
Ich benutze seit ein paar Monaten ein Tool für Aufgabenplanung. Damit lege ich mir E-Mails auf Wiedervorlage auf Montag statt sie am Sonntag zu beantworten und dadurch ist meine Inbox immer leer.
Die Menschen, die sagen, sie haben keine Zeit, sind tendenziell überfordert. Das ist allerdings keine Schuldfrage, sondern Ergebnis der Situation. Beispielsweise alleinerziehende Mütter, die fürs Einkommen sorgen müssen, die den Haushalt bewältigen und vieles mehr. Das ist dann definitiv keine Frage des Managements mehr, sondern einfach eine Frage der Überforderung.
Was diesen Menschen helfen würde ist Vertrauen, Verantwortung abzugeben, aber natürlich muss man sich das auch leisten können. Das ist auch dann schwer, wenn man nicht so viele soziale Kontakte bzw. Netzwerke hat bzw. nicht das Geld, um sich die Leistung einzukaufen.
Wir erleben es, dass Armut vereinsamt und dadurch verstärken sich diese Effekte. Aus Armut rauszukommen, ist bei uns schwerer als in anderen Ländern. Wir haben zwar soziale Sicherungssysteme, aber diese erzeugen selbst wiederum Stress durch Prüfung, Nachweise, Leistungsdruck, Sanktionen und alleinerziehnde Eltern werden dann noch bestraft, wenn sie Kinder haben. Wenn Kindergeld auf das Einkommen berechnet wird, was völlig absurd ist. Eigentlich müßte es genau umgekehrt laufen, dass Millionäre kein Kindergeld bekommen und Alleinerziehende das Geld doppelt bekommen, so müsste es ja eigentlich laufen. Und das tut es nicht.
Raúl über die Bedeutung von Bedürfnissen und Selbstkritik
Was die meisten Menschen wirklich brauchen
Carmen Uth:
Welche Rolle spielen generell Bedürfnisse in Ihrem Leben?
Raúl Aguayo-Krauthausen:
Was sind Bedürfnisse? Was ist Betäubung?
Ich beobachte, dass wir viel konsumieren, um irgendetwas zu betäuben. Um das Gefühl nichts zu gelten, wenn wir etwas nicht besitzen oder nicht dazu gehören und uns einsam fühlen, kompensieren wir beispielsweise mit Social Networks. Das heißt natürlich nicht, dass jeder Mensch, der exzessiv Facebook macht, einsam ist. Ich habe meine Ausbildung als Telefonseelsorger gemacht. Es sind mehr Menschen einsam, als man glaubt. Es gibt auch einsame Menschen, obwohl sie viele Kontakte haben. Bekannte sind nicht Freunde. Freunde sind nicht Familie. Und selbst in der Familie gibt es Einsamkeiten.
Das scheint auch ein Tabu zu sein, darüber zu reden. Zu sagen: „Ich bin einsam.“ Das will auch keiner hören. Aus Angst, nicht zu wissen, wie man reagieren soll, was man sagen soll. Und genau das ist der Grundfehler, dass Menschen glauben, eine Antwort haben zu müssen. Dabei geht es überhaupt nicht um eine Antwort, sondern es geht ums Zuhören. Jeder Ratschlag ist dabei ein Schlag. Und das ist auch etwas, was mich manchmal nervt. Ich brauche keinen Tipp, denn ich bin der Experte für mein Problem, sondern einfach nur jemanden, der mich in den Arm nimmt, mir zuhört oder sagt: Komm, ich begleite Dich ein Stück.
Nehmen wir ein Extrembeispiel: Angenommen ich habe Kopfschmerzen und der andere hat Krebs. Dann hilft es mir in dem Augenblick gar nichts, wenn der Andere sagt: Stell Dich mal nicht so an, ich habe Krebs, genauso wie es nicht hilft, wenn ich sagen würde, ja das kenne ich, ich habe auch Kopfschmerzen. Vielmehr geht es darum zu akzeptieren, das ist beides nicht so toll. An diesem Punkt können wir uns treffen. Sich gegenseitig den Respekt zu geben, das man gerade leidet.
Carmen Uth:
Was hilft Ihnen, selbstkritisch zu sein?
Raúl Aguayo-Krauthausen:
Da ist ein gutes Netzwerk aus Freunden und Bekannten wichtig, die einem auch mal die Grenzen aufzeigen und kritisch begleiten. Ich habe mal ein Buch geschrieben und wir haben lange recherchiert, in welche Richtung es gehen soll. Es handelte sich um eine Biographie und auf keinen Fall um einen Lebensratgeber nach dem Motto: Wenn Du das Buch kaufst und liest, wie Raúl sein Leben gestaltet, dann kannst Du Dein Leben auch schaffen. So etwas zu behaupten ist anmassend. Und das funktioniert sowieso nicht. Es gibt so viele schöne Philosophien die besagen, dass man mehr aus Niederlagen lernt, als aus Erfolgen. Die richtige Frage beispielsweise an Richard Branson wäre daher nicht: Wo bist Du erfolgreich?!
Sondern: Wo bist Du gescheitert und was hast Du daraus gelernt?
Und deshalb ist es so wichtig, sich nicht nur diese Fragen immer wieder zu stellen, sondern vor allem auch kritisch zu bleiben: Kann es nicht sein, dass ich richtig viel Glück habe?
Kann es vielleicht sein, dass es total wichtig ist, zuzuhören, ein Gespür zu entwickeln oder sich das Gespür vielleicht auch von anderen zu holen. Zum Beispiel zu sagen: Sei jetzt bitte ganz ehrlich, ich muss mal wissen, ob das jetzt richtig oder falsch war? Kommt das zu arrogant rüber? Und dann muss man die Antwort aber auch ertragen und aushalten.
Das ist nicht einfach und auch mir gelingt das nicht immer. Ich glaube, das hängt auch davon ab, wie es verpackt wird. Damit meine ich nicht die Sandwich-Taktik, davon bin ich kein Fan. Kritik muss konstruktiv sein und wohldosiert.
Wie man Probleme richtig angeht
Machbarkeitsstrategien
Carmen Uth:
Wenn Sie ein Problem lösen möchten, begnügen Sie sich mit einer Lösung oder suchen Sie nach mehreren Optionen
Raúl Aguayo-Krauthausen:
Wir schauen erstmal ganz stark nach dem dahinter liegendem Bedürfnis.
Dazu empfehle ich das Buch „Rework“.
Wenn Du eine Idee hast und Du hast dieses „Weltherrschaftsgefühl“, diese Euphorie, musst Du Dich gleichzeitig immer fragen, tust Du nicht zuviel Ketchup zu den Pommes?! Löst Du wirklich ein Problem oder ist es nur ein Feature?
Ich glaube, zu oft bauen wir nur Features, wie es auch Herr Kuhna von adidas gerade auf der Bühne gesagt hatte, wir bauen Apps, die keiner braucht. Die sehen schön aus, aber es ist einfach nur Ketchup.
Es sind nicht die Pommes.
Die Frage ist, was sind die Pommes? Und wie kommen wir an die Pommes ran?
Carmen Uth:
Wenn Sie in einer Blockade wie das genannte Thema Zeit stecken, wie setzen Sie Prioritäten, um sich da herauszuholen?
Raúl Aguayo-Krauthausen:
Carmen Uth:
Wie finden Sie für sich heraus, was machbar ist?
Raúl Aguayo-Krauthausen:
Carmen Uth:
Was möchten Sie den Lesern auf den Weg mitgeben?
Raúl Aguayo-Krauthausen:
Wir reden immer vom Thema Crowd-Working – das ist ein sehr neoliberaler Gedanke. Es geht darum, dass jeder seines Glückes Schmied ist.
Aber: Nicht jeder Schmied hat Glück.
Deshalb geht es darum, wie wir das Bewußtsein dafür schaffen, was Menschen dazu bringt, sich zu entfalten und was sie daran hindert! Und oft sind es externe Strukturen, wie z.B. Leben auf dem Land oder nicht mobil zu sein, kein Auto zu haben, kein Geld, keine Kinderbetreeung, die das eigentliche Problem sind.
Da kann man noch so sehr schreien: Jeder kann es schaffen. Es gibt manche, die brauchen einfach Unterstützung.
Raúl Aguayo-Krauthausen studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin sowie Design Thinking an der HPI School of Design Thinking.
Zudem ist er ausgebildeter Telefonseelsorger.
Mit seinem Cousin gründete Raúl Aguayo-Krauthausen den gemeinnützigen Verein „Sozialhelden“.
Wir freuen uns, zu den Förderern dieses Vereins zu gehören.
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